Ausschnitt aus Haruki Murakamis "Kinos Bar"
Nicht lange nachdem die Katze verschwunden war, tauchten die Schlangen im Vorgarten des Hauses auf.
Die erste war dunkelblau. Und ziemlich lang. Kino wollte gerade mit einer Papiertüte voller Lebensmittel im Arm die Tür öffnen, als er sie im Schatten der Weide dahinkriechen sah. Eine Schlange mitten in Tokio war ein seltener Anblick. Er erschrak ein bisschen, dachte sich aber weiter nichts dabei. Hinter dem
Nezu-Museum lag ein großer naturbelassener Garten. Es wäre nicht verwunderlich gewesen, wenn dort auch Schlangen gelebt hätten.
Aber als er zwei Tage später am Vormittag die Tür öffnete, um die Zeitung zu holen, fiel sein Blick wieder auf eine Schlange, an fast derselben Stelle. Diesmal war sie grünlich, kleiner als die erste und wirkte irgendwie schleimig. Als die Schlange Kino entdeckte, hielt sie in ihrer Bewegung inne, hob leicht den Kopf und sah ihm ins Gesicht (oder zumindest wirkte es so). Als Kino zögerte, senkte sie langsam den Kopf und verschwand rasch im Schatten. Es war ihm ein wenig unheimlich, denn diese Schlange schien ihn zu kennen.
Die dritte Schlange sah er drei Tage später, wieder an derselben Stelle unter der Weide im Vorgarten. Sie war viel kürzer als die beiden vorherigen und schwarz. Kino kannte sich mit Schlangen nicht aus, aber diese kam ihm bisher am gefährlichsten vor. Sie sah wie eine Giftschlange aus, aber er war sich nicht
sicher. Er sah sie nur einen Augenblick lang. Als sie seine Gegenwart bemerkte, huschte sie ins Gebüsch und verschwand. Drei Schlangen innerhalb einer Woche waren doch etwas zuviel. Womöglich braute sich hier etwas zusammen.
Kino rief seine Tante in Izu an. Zuerst teilte er ihr ein paar Neuigkeiten mit, dann fragte er sie, ob sie im Vorgarten des Hauses in Aoyama schon einmal Schlangen gesehen habe.
»Schlangen?« Die Tante hob erstaunt die Stimme. »Meinst du richtige, lebendige Schlangen?«
Kino erzählte ihr von den drei Schlangen, die er vor dem Haus beobachtet hatte.
»Ich habe ja lange dort gewohnt, aber ich kann mich nicht erinnern, jemals eine Schlange gesehen zu haben«, sagte die Tante.
»Dann ist es also nicht normal, dass ich innerhalb von einer Woche drei Schlangen am Haus gesehen habe, oder?
»Nein, das ist wirklich nicht normal. Könnte es sein, dass sie Vorboten eines großen Erdbebens oder so was sind? Tiere spüren doch die Ankunft ungewöhnlicher Phänomene und können Bewegungen wahrnehmen, die von der Normalität abweichen.«
»Dann sollte ich für den Notfall lieber ein paar Essensvorräte anlegen«, sagte Kino.
»Ja, das wäre gut. Wenn man in Tokio wohnt, sollte man sowieso immer mit einem Erdbeben rechnen.«
»Aber ob Schlangen sich überhaupt um Erdbeben kümmern?« Seine Tante sagte, sie wisse nicht, worum Schlangen sich kümmerten. Kino wusste es natürlich auch nicht.
»Aber Schlangen sind doch eigentlich ziemlich kluge Tiere, sagte die Tante. »In alten Mythen ist es oft ihre Rolle, den Menschen einen Weg zu weisen. Seltsamerweise haben das viele Mythen auf der Welt gemeinsam. Allerdings weiß man nie, ob sie uns in eine gute oder in eine böse Richtung lenken. In vielen
Fällen ist das Gute zugleich auch das Böse.«
»Sie sind ambivalent«, sagte Kino.
»Ja, Schlangen sind ursprünglich ambivalente Wesen. Und die größten und stärksten von ihnen verstecken ihre Herzen an einem geheimen Ort, damit sie nicht getötet werden können. Wer also eine Schlange töten will, muss diese verborgene Höhle finden und, solange sie fort ist, ihr schlagendes Herz in zwei
Teile zerschneiden. Natürlich ist das nicht so leicht.«