Ausschnitt aus Leonhard Franks "Kindheit"
Knapp hinter dem Kinderwagen, das frischbackige Gesicht stolz erhoben, ritt in verhaltenem Trab ein kleines Mädchen im Knieröckchen auf ihrem Steckenpferd, so daß die langen, schön gewölbten, nackten Schenkel sichtbar waren. Die Gruppe machte sofort halt, als der im Wagen strampelnde Säugling die Hand nach dem zu hoch hängenden Hampelmann ausstreckte.
Das Mädchen ritt, die Locken schüttelnd, in gezähmter Pferdeungeduld feurig an der Stelle weiter. Und sah, Brust vorgestreckt, über den abgerissenen, abgezehrten, blutleeren Proletarierjungen weg, der sich aus der Fabrikgegend in die Sonne verirrt hatte und, das Drama der Armut im Blick, offenen Mundes den Reichtum bestaunte.
Beim Erblicken des Jungen wurde Jürgen breitströmend durchzogen von einer ihm ganz neuartigen Empfindung, die alle andern Gefühle in ihm auffraß. ›Wie darf das sein, daß solche Kinder in Schmutz und Not hineingeboren werden, während andere – wie jene ohne Verdienst und Schuld – im sonnigen Kinderzimmer eintreffen, wo alle Pflege, Hausarzt und Amme schon warten?‹
Mit einem Blick nagelte die Bonne den zögernd folgenden Jungen fest, der stehenblieb und zusah, wie das Mädchen geradewegs ins Leben hineinritt.
Jürgen konnte die Augen nicht abwenden von dem Jungen, der seine Augen von dem glänzenden Mädchen erst losriß, als er sich beobachtet fühlte. Dunkel fragend sah er empor zu Jürgen, den mit Wucht die Empfindung traf, soeben Zeuge eines ungeheueren Menschheitsverbrechens geworden zu sein.