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Ausschnitte aus Tschingis Aitmatows "Die Richtstatt"

Ach, wie wird die Verfolgungsjagd durch die winterliche Savanne brausen! Die Saigaherden stürmen davon wie vor einer Feuersbrunst, Hals über Kopf, im Nu verwandelt sich der weiße Schnee in eine schwarze Erdnarbe, und sie, Akbara, rast hinterher, den Wölfen voran; hinter ihr aber, fast an ihrer Seite, laufen ihre Kinder, die jungen Wölfe, ihre drei Erstlinge, ihr Nachwuchs, der nach seiner ursprünglichen Bestimmung um solcher Jagd willen zur Welt gekommen ist, und dahinter natürlich Taschtschainar, der Vater, kraftvoll, unermüdlich im Lauf, nur ein Ziel verfolgend - die Saigas so zu treiben, daß sie zum Hinterhalt hin abbiegen, damit seine Sprößlinge eine Unterrichtsstunde in Jagd bekommen. Das wird ein Lauf! Diese Jagdvision entsprang weniger Akbaras Verlangen nach Beute als vielmehr ihrem Wunsch, daß die Jagd möglichst schnell begänne und sie alle wie graugeflügelte Vögel durch die Steppe dahinflögen. Darin lag der Sinn ihres Wolfslebens.
Das waren die Träume der Wölfin, ihr von der Natur eingegeben, vielleicht aber auch vom Himmel, Träume, an die sie sich später bitter, schmerzlich erinnern würde, die sie bis in den Schlaf verfolgen sollten, oft und ausweglos... Ihr Geheul würde der Preis der Träume sein. Alle Träume sind so - zuerst entstehen sie in der Einbildung, dann brechen sie größtenteils zusammen, weil sie sich erdreistet haben, ohne Wurzeln zu wachsen wie manche Blumen und Bäume. Alle Träume sind so - daher ihre tragische Notwendigkeit bei der Erkenntnis von Gut und Böse.

[...]

Daß er zu dieser Stunde gefesselt auf dem Laster lag, weckte in ihm bittere Gedanken. Doch am schmerzlichsten empfand er seine völlige Einsamkeit, und er erinnerte sich an den halbvergessenen Ausspruch eines orientalischen Dichters über die Natur der Einsamkeit: „Einsam bist du in tausendköpfiger Menge, und einsam bist du auch mit dir allein." Immer trauriger und qualvoller dachte er an sie, die ihm seit einiger Zeit das teuerste Wesen auf Erden war, ihn in seinen Gedanken ständig begleitete wie sein zweites Ich, die er in dieser Stunde nicht von sich zu trennen vermochte und an die er sich mit seinen Gefühlen und Grübeleien wandte; und sollte es tat sächlich eine Telepathie geben, eine übersinnliche Verbindung einander sehr nahestehender Naturen im Zustand besonderer Spannung, dann mußte in dieser Nacht jemand eine sonderbare Sehnsucht und ein heraufziehen des Unheil spüren.
Jetzt begriff er auch den wahren Sinn des Paradoxons jenes orientalischen Dichters, über das er sich früher insgeheim lustig gemacht hatte: wie könne das sein, wie könne man so etwas behaupten: „Möge sich niemals verlieben, wer wahrhaft zu lieben geneigt ist..." So ein Unsinn! Jetzt weinte er still, während er an sie dachte und er kannte, daß er, wenn er nichts von ihr wüßte und sie nicht so heimlich und so verzweifelt liebte wie angesichts des Todes das eigene Leben, nicht diesen unstillbaren Schmerz empfände, diese Sehnsucht, diesen unüberwindlichen, unlogischen und qualvollen Wunsch: sich auf der Stelle loszureißen, sich zu befreien und mitten in der Nacht durch die Savanne zu ihr zu laufen, zu der inmitten der transkontinentalen Weite verlorenen Bahnstation Shalpak-Sas, um wie damals eine halbe Stunde vor ihrer Tür stehen, vor dem hospitaleigenen Häuschen, in dem sie am Rande der großen Wüste wohnte. Aber ohnmächtig, das zu tun, verwünschte sich Awdi für seine Zuneigung, an der ihr möglicherweise gar nichts lag; denn nur ihretwegen war er zurückgekehrt, ein zweites Mal in diese asiatische Region gekommen, befand sich nun hier, in der Mujunkum, und lag mit gebundenen Händen da erniedrigt und beleidigt. Aber die Gefühle, die er für sie empfand und die umso stärker wurden, je mehr die Aussicht schwand, daß sein Wunsch, sie zu sehen, in Erfüllung ging, und je mehr ihn seine Einsamkeit quälte, ließen ihn zugleich das beglückende Einswerden mit Gott entdecken; denn jetzt erkannte er, daß in der Liebe Gott selbst sich offenbart, daß er dem Menschen so das höchste Glück des Lebens schenkt und seine Freigebigkeit in dieser Hinsicht unendlich ist wie der Zeitenlauf, während das Geschenk der Liebe in jedem Fall und für jeden Menschen unwiederholbar bleibt. „Dank dir, Allmächtiger!" flüsterte er, auf den nächtlichen Mond blickend, und dachte: Ach, wüßte sie nur, wie groß und unermeßlich Gottes Güte ist, wenn er Liebe in ein Herz senkt...

[...]

Der Morgen war heiß in Jerusalem und verhieß einen noch heißeren Tag. Der Prokurator Pontius Pilatus hatte sich einen Sitz in den marmornen Säulengang vor der Arkadenterrasse des Herodes-Palastes stellen lassen, wo ein kaum spürbares Lüftchen seine in Sandalen steckenden Füße umspielte. Die Wipfel der pyramidenförmigen hohen Pappeln im großen Garten rauschten leise, ihr Laub war in diesem Jahr vorzeitig vergilbt.
Auf steiniger Höhe gelegen, bot die Terrasse einen Blick auf die Stadt, deren Umrisse jedoch in einem leichten Dunstschleier verschwammen; die Luft erhitzte sich immer mehr, und sogar die von der weißen Wüste begrenzte Umgebung von Jerusalem, sonst immer deutlich zu sehen, war kaum zu erahnen.
An diesem Morgen kreiste lautlos ein einsamer Vogel über dem Hügel - mit weit ausgebreiteten Schwingen, so daß es aussah, als wäre er mit einem unsichtbaren Faden am Himmel aufgehängt, überflog er in gleichmäßigen Zeitabständen den großen Garten. Vielleicht war es ein Adler, vielleicht auch ein Milan, ein anderer Vogel hätte nicht die Geduld gehabt, so lange und gleichmäßig am heißen Himmel zu fliegen. Als der Prokurator sah, daß Jesus von Nazareth, der vor ihm stand und von einem Fuß auf den anderen trat, den Vogel mit einem zufälligen Blick streifte, wurde er unwillig und fühlte sich sogar beleidigt. Gallig und schroff sagte er:
„Wohin wendest du deine Augen, König der Juden? Dort kreist dein Tod!"
„Er kreist über uns allen", erwiderte Jesus leise, als spräche er zu sich selbst, und strich unwillkürlich mit der Hand über sein geschlossenes, schwarz unterlaufenes Auge.

[...]

Der Prokurator in seiner schneeweißen Toga richtete im Säulengang der Terrasse zu voller Größe auf, majestätisch, großköpfig, mit derben Zügen und festem Blick.
„Präzisieren wir also der Ordnung halber", sagte er und zählte auf: „Vater - wie hieß er doch gleich? - Joseph, Mutter - Maria. Geboren in Nazareth. Alter - dreiunddreißig. Ledig. Kinderlos. Hast das Volk aufgewiegelt. Hast gedroht, den großen Tempel in Jerusalem zu zerstören und in drei Tagen einen neuen zu errichten. Gibst dich als Prophet aus, als König der Juden. Das ist kurzgefaßt deine Geschichte."
„Reden wir nicht über meine Geschichte, aber dir will ich sagen: Du wirst in die Geschichte eingehen, Pontius Pilatus", sprach Jesus von Nazareth leise und sah dem Prokurator ernst ins Gesicht. Für immer." Was denn noch!" Achtlos winkte Pontius Pilatus ab. Ihm schmeichelte das Gesagte, doch unversehens änderte er den Ton und sprach feierlich:,,In die Geschichte wird der ruhmreiche Kaiser Tiberius eingehen. Gepriesen sei sein Name. Wir sind nur seine treuen Kampfgefährten, mehr nicht."
„Dennoch wirst du es sein, der in die Geschichte eingeht, Pontius Pilatus", wiederholte der Mann, der nun zur Schädelstätte jenseits der Mauern von Jerusalem aufbrach.
Der Vogel aber, ob es nun ein Milan war oder ein Adler, der schon seit dem frühen Morgen über dem Palast des Herodes gekreist hatte, als warte er auf jemanden, schwenkte plötzlich ab und flog langsam in dieselbe Richtung, in die, wie ein gefährlicher Verbrecher gefesselt und von einer vielköpfigen berittenen Wache umgeben, derjenige geführt wurde, mit dem der Prokurator von ganz Judäa, Pontius Pilatus, gesprochen hatte.
Der Prokurator indessen stand noch immer auf der Terrasse und beobachtete voll Verwunderung und Entsetzen den sonderbaren Vogel, der dem nachflog, den sie auf die Schädelstätte führten..
Was mag das bedeuten?" flüsterte er betroffen und beunruhigt.

[...]

Das Dunkel schloß sich. Alle ringsum verstummte, zurück blieb nur Awdi, an den Baum gebunden, allein auf der ganzen Welt. In seine Brust brannte es, im zerschlagenen Leib wühlten unerträgliche, wahnsinnige Schmerzen, langsam schwand sein Bewußtsein, so wie eine Insel bei Hochwasser untergeht. Meine Insel in der Oka. Wer rettet dich, Lehrer? Wie ein Funke flammte sein letzter Gedanke auf und erlosch.
Was er als herandrängende Flut wahrnahm, war sein verströmendes Leben ...
Seinem erlöschenden Blick bot sich ein großes Wasser, eine Wasserfläche ohne Anfang und ohne Ende. Das Wasser brodelte lautlos, lautlose weiße Wellen liefen darüber hin wie Treibschnee übers Feld, unbekannt woher, unbekannt wohin. Doch am kaum erkennbaren Horizont des lautlosen Meeres erahnte Awdi die Umrisse eines Mannes, und er erkannte ihn es war sein Vater, der Diakon Kallistratow. Und plötzlich vernahm er seine eigene Knabenstimme - er sagte dem Vater dessen Lieblingsgebet für das versunkene Schiff auf, wie damals zu Hause in der Kindheit, beim alten Klavier, nur war jetzt der Abstand zwischen ihnen riesig, und die Knabenstimme erklang hell und beseelt über den Weltraum.
„Verzeih mir, Barmherziger, Gepriesener, Gerechter, daß ich mich ständig an Dich wende. In meinem Gebet ist kein Eigennutz - ich bitte um kein Quentchen irdischer Güter und bete nicht um die Verlängerung meiner Tage Nur um die Rettung von Menschenseelen flehe ich Dich an und werde ich nicht aufhören, Dich anzuflehen. Gib daß wir nicht in Unwissenheit verharren, Allverzeihen der, laß nicht zu, daß wir Rechtfertigungen suchen in der Verflechtung von Gut und Böse auf Erden. Erleuchte das Menschengeschlecht. Über mich selbst wage ich kein Wort zu verlieren. Ohne Furcht will ich jedes Ende als verdient hinnehmen - ob mich nun das Höllenfeuer er wartet oder ob ich in das Reich komme, das ewig ist. Unser Los hast nur Du zu bestimmen, unsichtbarer und unermeßlicher Schöpfer.
Um eins nur bitte ich Dich, und keine größere Bitte habe ich ...
Um eins nur bitte ich. Laß das Wunder geschehen, daß das Schiff seinen alten Kurs beibehält, Tag für Tag, Nacht für Nacht, solange Tag und Nacht einander nach der von Dir bestimmten Ordnung ablösen im kosmischen Erden lauf. Laß es von Ozean zu Ozean fahren, das Schiff, mit unveränderlicher Wache, mit stets abgedeckten Rohren, daß die Wogen ans Heck schlagen, daß ihr lautes Tosen und Rollen nie verstummt. Laß die Spritzer des Ozeans wie pfeifender Regen dagegenschlagen, daß es die bittere fliegende Nässe atme. Laß es das Deckgeknarr hören, den Maschinenlärm und die Schreie der Möwen, die dem Schiff im Fahrtwind folgen. Und laß das Schiff auf eine lichte Stadt am fernen Ufer des Ozeans Kurs halten, auch wenn ihm nicht gegeben ist, dort jemals anzulegen. Amen."
Seine Stimme erlosch allmählich, entfernte sich immer mehr... Und Awdi hörte sein Weinen über dem Ozean. Die ganze Nacht ergoß sich klares, blendendes Mondlicht über die stille, unermeßliche Mujunkum und erleuchtete hell die am Saksaulbaum gekreuzigte erstarrte Menschengestalt. Die Gestalt erinnerte an einen großen Vogel mit ausgebreiteten Schwingen, der nach oben strebte, doch angeschossen ins Geäst gestürzt ist.