JTGT

Ausschnitt aus Carl Zuckmayer Carl Zuckmayers "Die Geschichte eines Bauern aus dem Taunus"

Aber der Sommer ging immer weiter ins Land, die frühen Kartoffeln wurden schon ausgemacht, bald sollte der dritte Heuschnitt sein. Da geschah es in einer klaren Mondnacht, daß aus dem tiefsten Schlaf Schorsch Philipp Seuffert sein Weib weckte. Zuerst starrte sie ihn mit verschleierten Augen an, rappelte sich hoch, schwergliedrig, im Glauben, es sei etwas los im Stall oder in der Scheuer und sie müsse helfen. Dann bemerkte sie ohne Begreifen, daß der Mann vor ihr in voller Uniform stand, den Stahlhelm auf dem Kopf, den Tornister auf dem Rücken, neue Unteroffizierstressen hatte er sich auf den verblichenen Waffenrock genäht, und die Stiefel waren dick mit Fett beschmiert. »Wach auf«, sagte er mehrere Male, und es war etwas sonderbar Fremdes in seinem Ton, dem sie blind zuhorchen mußte, ja sie vergaß ganz den Schreck und die Sorge, die ihr schon lang sein stummes Wesen machte, sondern lauschte auf seinen Stimmklang benommen wie auf das Kyrie und die anderen Gesänge des Pfarrers im Hochamt. Und wie bei einer Predigt verfiel sie wieder in einen bang wohligen Halbschlaf, als er, leise und unverständlich vor sich hinredend, seine Tabakspfeife mit viel Umstand in Brand setzte. Der brenzlige Geruch des Rauchtabaks für Heer und Flotte vermischte sich in der Kammer mit Zimmerdunst und einströmendem Heugeruch, der Tabaksrauch zu so ungewohnter Stunde wirkte auf die Frau wie ein berauschender unheimlicher Weihrauch, sie starrte ihn an, erkannte ihn kaum. Das Mondlicht troff so über sein Gesicht, die gerade, harte Stirn, die kurze Nase, die eckigen Backen und das breite Kinn, daß er wie ein Kopf aus gehauenem Stein aussah, oder wie ein Toter, und nur das kleine gelbwächsern Schnurrbärtchen, schwarzstoppelig über den starken Lippen, zuckte und bebte ein sonderbares Leben. Ein Luftzug schleifte den Duft der weißen Nachtfalterblüten durchs Zimmer, süß und schwer stieg Schlafsucht durch die Nase und den offenen Mund der Frau ins Hirn - wenn er doch sich ausziehen wollte und ins Bett kommen - dachte sie dunkel und wagte sich nicht zu bewegen.
Plötzlich aber schrak sie wild in die Höhe. In sein Gesicht war dieser Ausdruck gefahren, der sie seit Wochen schon erschreckte und krank machte, dieses schwere geplagte Kauen, wie wenn einer reden will und zu reden glaubt, und es ist keine Sprache in seinem Mund; auch im Schlaf hatte sie es oft an ihm gesehen, und dann war er aufgesprungen und hatte sie angefaucht: »Ich muß fort« - das war es immer - »ich muß fort« und jetzt stand er mit diesem wilden Angesicht wie beim Erwachen dicht vor ihrem Bett, nur viel härter war es jetzt und fest entschlossen klang die Stimme, als er ihr die Hand hinhielt und sagte: »Ich geh'.« Dann zog er die Hand noch einmal zurück, ging zur Tür und stippte die Finger ins geweihte Wasser, daß es aufspritzte. Seine Augen glänzten matt und undurchsichtig wie schwarze Kohlen, als er ganz ruhig wieder an ihr Bett ging. Er tropfte das Wasser ab. »Es schad' weiter nix«, sagte er dabei und dachte einen Augenblick nach. »Ich komm' bald wieder«, sagte er dann, drückte ihr die schlaffe warme Hand und schritt mit klappernden Absatzeisen zur Tür hinaus.
Ihr war wie einem, der im Schlaf einen schweren Druck verspürt, eine Faust an der Gurgel oder ein Knie auf der Brust, und will schreien, sich wehren, sich erheben, aber der ganze Leib liegt wie in Totenstarre, die Glieder haben keinen Willen, der Mund keine Stimme, nur der Kopf ist wach mit all seinen schreckhaften Gesichten.