JTGT

Ausschnitt aus Leonhard Franks "Der Mensch ist gut"

»Unsere Autoritäten konnten uns marschieren lassen, jeden Einzelnen von uns als Menschenmetzger anstellen und ganz Europa in ein Menschenschlachthaus verwandeln, weil unsere Lebensauffassung entsetzlich genau ihrer Lebensauffassung entspricht. Weil wir, in notwendiger Folge unserer Gedankenlosigkeit, Meinungslosigkeit, unseres Verlangens nach Geachtetwerden, nach Besitz, Stellung und Macht, bisher immer nur die Luft geatmet, die Worte gesprochen, die Gedanken gedacht und nach den Gefühlen gehandelt haben, die uns von der Autorität geliefert worden sind … Von der Autorität, die mit dem gleichen Munde, mit dem sie den Befehl zum Feuern auf Menschen gibt, uns von Zivilisation spricht. Bedeutet das nicht, von allem Anfang an in der Lüge ertrunken sein, von Zivilisation zu sprechen, solange noch durch jede Straße Europas Menschen gehen, die an der Seite Messer hängen haben, dafür bestimmt, in Menschenleiber hineingebohrt zu werden? [...]«



[...]

Eine Weile saß der Wärter ganz reglos am Tische; er hörte nur das Rauschen der Ventilatoren in der Leichenhalle, glitt immer tiefer in einen Gefühlstrichter hinunter und kam wieder zu dem alles zusammenfassenden Schlusse: ›Wenn man sich überlegt, daß alle, daß auch die kompliziertesten, phantastischesten Scheußlichkeiten, die sich ein Menschengehirn auszudenken vermag, in diesem Kriege begangen worden sind, daß man sich keine Grausamkeit, keine Ungerechtigkeit, keine Niedertracht ausdenken kann, die nicht begangen worden wäre, und daß, außer diesem Vorstellbaren zahllose Schandtaten geschehen sind, die man sich gar nicht ausdenken kann, ist Jeder, der im Angesichte dieser Bluttatsache nicht als Protestler im Zuchthause sitzt, nicht irrsinnig wird oder sich das Leben nicht nimmt, ein robustes, gemeines, erbärmliches Individuum. Ein anständiger Mensch, ein Mensch erträgt das Leben nicht, in dem solches möglich ist und auch noch als Heldentum gefeiert wird … Unter den hundertneunzigtausend Kriegsselbstmördern waren – und in den Irrenhäusern und Zuchthäusern sind – die anständigsten, edelsten Menschen unseres Volkes.‹